Berliner Aufklaerung - Roman by Thea Dorn

Berliner Aufklaerung - Roman by Thea Dorn

Autor:Thea Dorn [Dorn, Thea]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Goldmann
veröffentlicht: 2011-05-24T17:00:00+00:00


PHILOSOPHISCHE BROCKEN

Anja stieg die Treppe ins Foyer hinab. Auf das cremefarbene, zerschlissene Ledersofa, das frühere Fachschaftsgenerationen vom Sperrmüll geholt hatten, ließ sie sich fallen. Eigentlich hatte sie bereits genug für heute. Gern wäre sie nach Hause gefahren und hätte sich ins Bett gelegt.

Mißmutig steckte sich Anja die erste Prince des Tages an und knüllte die leere Schachtel zusammen. Wieso mischte sie sich überhaupt in diese ganze Angelegenheit hier ein? Sollten die Philosophen sich doch gegenseitig umbringen. Je mehr, desto besser. Was ging sie das an? Rebecca war tot, mit und ohne Mörder. War es nicht lächerlich, den Racheengel spielen zu wollen?

Durch die verregnete Glasfront hindurch ließ Anja ihren Blick auf Hektor ruhen. Die Wassertropfen perlten an seinem frischgewachsten Lack ab. Seine breiten Flanken strahlten Entschlossenheit und Stärke aus. Inmitten des Tabakqualms drängte sich der bittere Geschmack frisch getrockneten Blutes hervor, wurde der Zug am Filter zur Berührung papierner Lippen. Anja drückte mit einem Ruck ihre Zigarette an dem Bein eines kleinen Resopaltisches aus. Es gab keine Gründe weiterzumachen, nur ein flüchtiges Gefühl.

Um Viertel vor drei würde Maier-Abendroths vierstündiges Seminar »Die Polis neu denken« zu Ende sein. Anja blieben somit fast zwei Stunden Zeit, um sich auf ihren Auftritt bei Schreiners letztem Freund vorzubereiten.

Von der Wendeltreppe aus, die in die Bibliothek hinunterführte, konnte sie sehen, daß fast alle Tische belegt waren, wenn auch die meisten der dazugehörigen Studierenden gerade Mittagspause machten. Anja blieb eine Weile auf dem vorletzten Treppenabsatz stehen, um ihren Blick durch den großen Raum mit seinen Regalen und verstreut stehenden Tischchen schweifen zu lassen. Dank einer künstlichen Senkung des Geländes hinter dem Institut konnte man durch eine große Glasfront in einen kleinen Garten mit ebenfalls künstlich angelegtem Weiher schauen. Ein einsamer Schwan ließ sich auf dem Wasser treiben.

Vorbei an der Bibliotheksaufsicht – die auch in der Mittagspause war – ging Anja zu dem Katalog.

Maier-Abendroth mußte in den letzten Jahren wild publiziert haben, denn Anja zählte fünfzehn Karteikarten, auf denen oben links sein Name stand. Sie schrieb sich die Signaturen der beiden zuletzt erschienenen Titel auf: »Gedanken-Striche – Gesammelte Aphorismen«, Berlin neunzehnhundertzweiundneunzig, und »Arbeit an der Gemeinschaft – Gesammelte Aufsätze und Reden«, Frankfurt/Main neunzehnhundertdreiundneunzig.

Nachdem Anja wider Erwarten die beiden Bücher an ihrem ordnungsgemäßen Platz gefunden hatte, suchte sie sich einen freien Tisch im hinteren Teil der Bibliothek. Es war bestimmt schon länger als vier Jahre her, daß sie hier das letzte Mal gesessen hatte. Gegen Ende ihrer Studienzeit hatte sie es sich abgewöhnt, in der Bibliothek zu arbeiten.

Anjas Blick wanderte über die Tische in ihrer Umgebung. Links gab es einen Tisch, an dessen Rändern mindestens drei Viertel der MEGA – Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe – als dreiseitiger Festungsring aufgestapelt waren. Auf dem wenigen Platz, der in der Mitte der Tischplatte freiblieb, lagen ein zerkauter Bleistift und mehrere Bögen unleserlich beschriebenen Ökopapiers – alle Anzeichen sprachen dafür, daß es sich hier um den Tisch eines kommunistischen Asketen handelte. Rechts von Anja war ein Tisch, auf dem sich außer einem dunkelblauen Füller und wenigen Blatt feinen, weißen Papiers gar nichts befand. Der Tisch mußte



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